Ragusa und das Nicht(s) Wollen
- maikebuchholz
- 29. Jan. 2024
- 4 Min. Lesezeit

Samstagvormittag – es ist Ausflugszeit. Ich bin früh genug aufgestanden, um unsere Fahrkarten einzuchecken, das muss man hier in Italien machen, die gekaufte Fahrkarte per se nützt einem nichts. Erst eingecheckt bzw. digital entwertet darf man die Fahrt antreten.
Da ich das beim ersten Mal nicht verstanden habe und es beinahe Ärger mit dem Schaffner gegeben hätte, will ich diesmal besser vorbereitet sein. Also noch mal schnell online geschaut, wie es geht, und siehe da, bereits 5 Minuten später ist alles erledigt. Hätte ich das vorher gewusst, wäre das Bett eine weitere Stunde meins gewesen.
Heute wird auch nicht zu Hause gefrühstückt, wir werden zusammen in unserer Stammbar, dem Café Serafino, unseren Cappuccino trinken und dazu eine sfoglia essen. Das ist mein Lieblingsgebäck hier, gefüllt mal mit Spinat, mal mit Käse oder auch mit Schinken, leicht warm – meine Delikatesse. Was wir da noch nicht wissen: Das ist eine ideale Mahlzeit, wenn die nächste Essenspause ungewiss ist. Es hält verlässlich und lange satt.
Gegen halb Zehn machen wir uns auf den Weg zum Bahnhof, es ist schon wieder so warm, dass die Jacken im Rucksack verstaut werden und dort auch für den Rest des Tages bleiben werden. Der Plan ist, mit dem Regionalbähnchen in gut 2 Stunden von Siracusa nach Ragusa zu fahren, dort vier Stunden verbringen und dann den gleichen Weg wieder zurück. Wir wären dann so gegen 19:00 Uhr daheim, bereit für Pizza und Beine hochlegen.

Noch bevor der Zug losfährt, gibt es wieder einmal eine Polizeikontrolle, alle Personalausweise werden eingescannt und geprüft. Gut, dass kein internationaler Haftbefehl gegen uns vorliegt. So ganz verstehen wir nicht, warum diese Kontrollen stattfinden, aber natürlich beschweren wir uns auch nicht darüber, mit italienischen Polizisten ist nicht zu spaßen. Nach 10 Minuten sind sie wieder raus aus der Bahn und es geht nun in gemächlichem Tempo Richtung Ragusa. Den Großteil der Fahrt verdöse ich, die Arbeitswoche steckt mir in den Knochen. Kurz vor halb Eins rumpeln wir den Berg hinauf, der uns eine grandiose Sicht auf Ragusa offenbart, wir schauen staunend nach draußen. Ein Wunder, immer wieder, wie Menschen vor vier Jahrhunderten, in so einer kargen Gegend, so viel barocke Pracht haben entstehen lassen. Voll motiviert verlassen wir den Bahnhof und lassen uns wieder einmal von der italienischen Beschilderung in die Irre führen, laufen einen guten Kilometer bergab, bevor wir merken, dass es nicht weiter in Richtung Altstadt geht. Also einen Kilometer wieder bergauf. Mein Elan lässt bereits nach. Wir sind hier im sizilianischen Gebirge, und ich hatte mir nicht klar gemacht, was das dann konkret bedeutet. Nämlich übelst viel bergauf. Das wird heute kein lässiger Spaziergang, das steht fest. Mittlerweile auf dem richtigen Weg, fällt mir ein Telefonat mit Freundin Andrea aus Frankfurt ein. Wir sprechen und arbeiten jede Woche miteinander, üben uns im heilsamen Begleiten, und sie hat für diesen Tag, ohne es zu wissen, die richtige Losung gefunden: Nichts Wollen.
Das wird für den Besuch von Ragusa zu meinem Mantra und trägt mich im wahrsten Sinne des Wortes durch die Stunden hier. Der Abstieg in die Altstadt von Ragusa ist auch beschwerlich, die Straßen alt, die Treppen endlos und mit unterschiedlichen Stufenhöhen. Das Nicht(s) Wollen hilft eine gleichmütige Haltung zu finden und einfach immer weiterzulaufen. Das gelingt Kolja etwas besser, er hat schon 30 Jahre mehr Zen-Meditation auf dem Buckel, da ist Gleichmut bei Schwierigkeiten jedweder Art zur zweiten Natur geworden.
Ragusa ist ein feines, altes Städtchen, jetzt im Winter ist jedoch nichts los, was die Umgebung ein bisschen leb- und trostlos erscheinen lässt. . Die Straßen sind bis auf ein paar Touristen ausgestorben, die Einheimischen sind nicht zu entdecken. Viele Häuser stehen zum Verkauf, es scheint, als ob Ragusa außer zur Reisezeit im Frühling und Sommer nicht das beste Fleckchen für ein gedeihliches Auskommen ist.
Nach gefühlt mehreren hundert Stufen und ein paar hübschen Ausblicken geht es nun Richtung Dom, der Hauptattraktion, wieder steil nach oben. Auch hier gilt: Nichts Wollen, ein paar Mal kurz angehalten und dann stehen wir vor dem Dom.

Pausenzeit, ein richtiges Restaurant gibt es nicht und selbst wenn eines locken würde: wir haben gar keine Zeit für ein ausgiebiges Mahl. Der Weg vom Bahnhof in die Stadt hat gut anderthalb Stunden gedauert, irgendwie müssen wir noch wieder zurückkommen, also gibt es bloß belegte Panini und einen kleinen Salat als Lunch. Während des Essens wird uns klar, dass wir es zu Fuß nicht schaffen werden, den Zug zurück rechtzeitig zu erreichen. Jetzt kommt bei mir auch das Nicht-Wollen ins Spiel. Drei Kilometer nur nach oben, dabei wieder diese entsetzlich hohen Stufen erklimmen. Aber welche Alternative haben wir? Zuerst versuchen wir es mit Uber. Seit zwei Jahren ist es Uber möglich, auf Sizilien Geschäfte zu machen. Der Bestellvorgang läuft gut, bis die App sich auf die Suche nach einem Fahrer macht. Es gibt schlichtweg keinen. Nun denn, rufen wir beim örtlichen Taxiunternehmen an, die Nummer geht nicht, es wird keine Verbindung hergestellt. Hm. Was jetzt? Ich überschlage im Kopf, was das Schlimmste ist, das passieren kann: Übernachtung in Ragusa und Heimfahrt am nächsten Tag. Also nichts, was jetzt tragisch wäre. Ich bleibe ruhig und murmele sicherheitshalber noch mal das Mantra of the day: „Nichts wollen, nichts wollen, nichts wollen“ – wir laufen erst einmal weiter und bereits nach wenigen Metern entdecken wir die geöffnete Touristeninformation. Hier werden wir beraten, man empfiehlt uns, den Bus zum Bahnhof zu nehmen, der käme alle 10 Minuten und wir wären in etwa 15 Minuten am Bahnhof. Die Haltestelle befindet sich nur etwa drei Minuten von der Information entfernt, das geht schnell. Wenn der Bus wie geplant kommt, haben wir noch zehn Minuten, um den Zug nach Siracusa zu erreichen. 10 Minuten verstreichen, dann 20 und nach 30 Minuten ohne Bus in Sicht, beschließen wir, noch einmal zurück zum Touristenbüro zu gehen, vielleicht doch besser ein Taxi anfordern? Auch das ist nicht so einfach, der freundliche Mitarbeiter braucht selbst fast eine halbe Stunde, um überhaupt einen Fahrer an die Strippe zu bekommen. Währenddessen ist uns seine Kollegin behilflich und sucht nach einem Überlandbus, der heute noch nach Siracusa fährt. Um 17:00 könnte es losgehen, viertel vor Acht wären wir dann daheim. Und es klappt tatsächlich: der Taxifahrer kommt, für akzeptable 15 Euro erreichen wir den Busbahnhof zur rechten Zeit und sitzen schließlich dankbar und glücklich im Bus. Hat sich der lange Tag gelohnt? Ja, und sei es dafür, dass ich meine Lektion in Nichts-Wollen gelernt habe.










Wunderschöne Bilder und eindrucksvolles Training einer inneren Haltung. Angesichts der realen Treppenvielfalt: beeindruckend. Und die Ruhe bewahren. Zwischen Taxi , Bus,Bahn und unklaren Alternativen, das erweitert, glaube ich, das Vertrauen- in die eigenen Fähigkeiten und darin, dass es gut werden kann…
Herzliche Grüße zu euch!
Brigitte